Hamburger Wahlrecht
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Jan
Hamburger Wahlrecht
Ich vermisse hier Auslassungen der Fachleute über das neue Hamburger Wahlrecht. Das sollte auf einer Wahlrechtsseite doch eigentlich für mehr Gesprächsstoff sorgen als eine Landtagaswahl wo wie sonst auch gewählt wird. Ich wäre da mal gespannt auf Meinungen von Leuten die sich mit sowas genauer auskennen.
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Sole
Hamburger Wahlrecht
Sinnvoll ist in jedem Fall die Entkopplung der Bezirkswahlen von den Wahlen des Landesgremiums und die Abschaffung der 5 % Hürde. Dies ermöglicht Stadtteilgruppen und seriösen politischen Newcomern eher den Einstieg in die Politik des Bezirks. Solche Vielfalt kann Frust eher abfedern und möglicherweise Populisten künftig verhindern. Zugegeben, eine vage Hoffnung
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c07
Hamburger Wahlrecht
Wundert mich auch schon seit Jahren sehr, dass hier darüber praktisch nicht diskutiert wird. Bei mir liegt es daran, dass ich ein etwas schizophrenes Verhältnis dazu hab. Einerseits freu ich mich über den Erfolg, weil es einige wirklich gute Ansätze hat und das Thema so in der Diskussion bleibt. Andererseits hätt ich als Hamburger dagegen stimmen müssen, weil es ein paar prinzipielle Mängel hat, die ich für absolut inakzeptabel halt. Mein Hauptkritikpunkt ist, dass es mehr oder weniger ein Abschied vom Verhältniswahlrecht ist, weil es darauf abzielt, dass regelmäßig Wahlkreiskandidaten außerhalb vom Verhältnisausgleich stehen. Teilweise ist das Absicht, teilweise sind es Missbrauchsmöglichkeiten, gegen die keine Vorsorge getroffen wird. Außerdem zwingt es die Wähler dazu, einzelne Personen zu wählen, was für weniger gut Informierte auf eine Einschränkung des Wahlrechts rausläuft. Wenn man Hamburg als mehr oder weniger kommunale Ebene betrachtet, ist das zwar noch relativ akzeptabel, wenn es die Bürger so wollen, aber für mich wär es ein klarer Grund zur Ablehnung, und ein Modell für größere Länder ist es deshalb auch nicht.
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Thomas Frings
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Mir geht es ähnlich wie C07: Obwohl ich schon die Entwicklung in Hamburg verfolgt habe, habe ich das hier so gut wie nie angeschnitten, nur das Thema des möglichen Mißbrauchs ist hier schonmal diskutiert worden. So kann man durch Tarnlisten den Verhältnisausgleich aushebeln. Das wird noch dadurch erleichtert, daß es für Wahlkreise und Landeslistensitze getrennte Stimmzettel geben soll. Wenug gelungen finde ich das personalisierende Element, denn es führt systematisch dazu, daß einerseits viele Präferenzstimmen verlorengehen andererseits aber Kandidaten mit sehr wenig Stimmen gewählt werden. Verantwortlich dafür ist die bedenkliche Konstruktion, daß Präferenzstimmen auf zwei Ebenen vergeben werden: Wird jemand im Wahlkreis und auf der Landesliste gewählt, sind die Präferenzstimmen auf der Landesliste wertlos. Das kann und wird mit Sicherheit dazu führen, daß vor allem bei den Großparteien auf den hinteren Rängen der Landesliste jede Menge Bewerber mit Zufallsmehrheit gewählte werden, die nur ein paar Dutzend Anhänger haben. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie 2001 die Schill-Wähler oder dieses Jahr die CDU-Wähler ihre Kreuze verteilt hätten: Weit über 90% hätten Ronald Schill bzw. Beust gewählt oder die ganze Liste angekreuzt und die übrigen Kandidaten wären beinahe leer ausgegangen. Gerade auch in einer Großstadt mit hoher Bevölkerungsfluktuation sowohl innerhalb des Stadtgebietes als auch mit dem Rest der Welt interessieren vor allem die Partei und der Spitzenkandidat und weniger das Personal vor Ort. Dabei ist auch zu bedenken, dabei 17 Wahlkreisen jeder immer noch durchschnittlich ca. 100000 Einwohner hat. Ich meine daher, es sollte ein Quorum geben, um auf der Liste nach vorne zu rücken. Neben vielen verfallenen Präferenzen und Zuallsmehrheiten können die Parteien die angestrebte Personalisierung weiter ad absurdum treiben: Sie können in den Wahlkreisen weitgehend risikolos einfach nur so viele Kandidaten aufstellen, wie sie realistischerweise Sitze erwarten können, dann ist die Auswahl für den Wähler gleich null. Die einzige "Sanktion" ist, daß die Partei eine etwas schlechtere Position auf dem Stimmzettel hat. Aber intelligent genug, die präferierte Parei auf dem Stimmzettel zu finden, werden auch die nicht ganz so hellen Wähler schon sein. 2001 hat es Schill trotz unterer Position auf dem Stimmzettel auf 19,4% gebracht, dieses Jahr bewahrte die günstige Position drei die Rest-PRO nicht vor dem Absturz auf 0,4%. @ C07 Man wird nicht gewungen, Präferenzstimmen zu vergeben, man kann ja auch fünf Stimmen der ganzen Liste geben.
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c07
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Thomas: > So kann man durch Tarnlisten den Verhältnisausgleich aushebeln. Das Problem sind nicht nur die Tarnlisten. Die Initiatoren zielen ja explizit drauf ab, dass in den Wahlkreisen möglichst viele parteiunabhängige Bewerber gewählt werden sollen, die sowieso außerhalb vom Verhältnisausgleich stehen. Die Wähler werden geradezu gezwungen, solche Leute zu wählen, weil sie sonst ihre Stimme verschenken. Eine Stimme für eine Partei ist im Wahlkreis wertlos, abgesehen von der Personalisierung. Aber eben deshalb sind die Parteien eigentlich auch gezwungen, Tarnlisten aufzustellen. > Wenug gelungen finde ich das personalisierende Element Das find ich eigentlich schon eher gelungen, wenn ich es mit den möglichen Alternativen vergleich. Es ist zwar alles andere als optimal, dafür aber sehr gut praktisch handhabbar. Die Relation zwischen Aufwand und Nutzen ist zumindest in den Wahlkreisen sehr gut. Richtig ist, dass die Personalisierung der Landeslisten bei den größeren Parteien eher zufällig ist. Das liegt aber nicht daran, dass Teile schon auf Wahlkreisebene gewählt sein werden. Ganz im Gegenteil lässt das sogar mehr relevante Stimmen übrig, falls solche Leute eben nicht auch auf Landesebene gewählt werden. Das Problem ist einfach, dass 5 Stimmen für Listen, die z.B. 50 Mandate erwarten können, zu wenig sind. Die 5 Stimmen sind aber immer noch besser als die 3 Stimmen oder gar nur eine einzelne Stimme anderswo. > Man wird nicht gewungen, Präferenzstimmen zu vergeben, > man kann ja auch fünf Stimmen der ganzen Liste geben. Ja, aber dann wählt man blind. Man kann nicht die Liste wählen, so wie sie von der Partei aufgestellt worden ist, sondern nur ein unbekanntes, teils zufälliges Ergebnis von dem, was andere Wähler gewählt haben. In Wirklichkeit ist die "Wahl einer Liste" eine weitgehende Stimmenthaltung, wenn man davon ausgeht, dass Personen irgendeine Bedeutung haben (und genau das tut das Wahlsystem ja ansonsten). Wie du ja auch geschrieben hast, fehlt es an Elementen, die die vorgegebene Liste stabilisieren können, falls viele Wähler keine einzelnen Personen wählen wollen oder können (wegen mangelnder Information oder den zufälligen Effekten). Es ist ja nicht mal eine Vorhäufelung möglich (wär in den Wahlkreisen prinzipiell problemlos, wenn es 6 Stimmen gäb, die im Verhältnis 3:2:1 auf die vorderen 3 Plätze verteilt wären).
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Wilko Zicht
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Da ich nicht unwesentlich an der Erstellung des Initiativentwurfs beteiligt war, sehe ich das natürlich anders als Thomas und c07. Ich hätte es zwar auch für besser gefunden, Vorkehrungen gegen Tarnlisten aufzunehmen, konnte mich damit aber nicht durchsetzen. Ich sehe das aber auch nicht als großes Problem an, da ich sicher bin, daß es keine derartigen Manipulationsversuche geben wird. (Wetten werden angenommen!) Sollte es wider Erwarten doch dazu kommen, kann man immer noch einschreiten. Warum hier von einem Zwang zu einem bestimmten Wahlverhalten gesprochen wird, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Wer seine Kreuzchen ohne Personenwahl bei einer Partei macht, der stimmt damit halt ohne Differenzierung für all jene Kandidaten, die seine Partei für geeignete Abgeordtene hält und die darum von der Partei als Kandidaten aufgestellt wurden. Wenn er dagegen die Listenreihenfolge der Partei in bestimmter Weise berücksichtigt wissen will, dann kann er den ersten fünf Kandidaten jeweils eine Stimme geben oder dem ersten drei und dem zweiten zwei oder dem ersten zwei und den frei folgenden jeweils eine - je nachdem, wie es seinen Prioritäten eher entspricht. Warum sollen da die Regelungen anderer Bundesländer besser sein, wo Listenkreuze auf eine bestimmte Weise den Kandidaten zugeteilt werden, die der schlecht informierte Wähler erst recht nicht weiß? Zumal - und das ist ungefähr tausendmal wichtiger - die Erfahrungen aus Hessen, Niedersachsen etc. zeigen, daß dadurch die Ergebnisse, die sich aus den Wählerstimmen ergeben, regelmäßig geplättet werden, so daß am Ende doch überwiegend die Listenreihenfolge und nicht die Stimmenreihenfolge entscheidend ist. Damit sind dann all die Effekte, die man dadurch erreicht, daß man die Parteien dem Votum der Wähler "ausliefert", dahin. Beim Wahlrecht geht es schließlich längst nicht nur darum, die politischen Präferenzen der Wähler möglichst originalgetreu in Parlamentsmandate umzusetzen. Die Ausgestaltung des Wahlrechts hat auch Einfluß auf die Machtverteilung zwischen Parteien und Wählern, auf das Selbstverständnis und die Arbeitsweise von Abgeordneten, auf die Lebendigkeit des demokratischen Gemeinwesens, sogar auf die thematische Ausrichtung der Medien und auf vieles mehr. Dies alles auszublenden, ist eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise.
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c07
Hamburger Wahlrecht
Wilko: Tarnlisten sind in der Praxis wahrscheinlich wirklich kein echtes Problem (obwohl das eben nicht sicher ist). Ziemlich wahrscheinlich (und sogar gewünscht) ist es aber, dass Listen auftreten, die sich faktisch wie Tarnlisten verhalten, auch wenn sie nicht direkt an eine Partei angekoppelt sind. > Wer seine Kreuzchen ohne Personenwahl bei einer Partei macht, der stimmt damit > halt ohne Differenzierung für all jene Kandidaten, die seine Partei für geeignete > Abgeordtene hält und die darum von der Partei als Kandidaten aufgestellt wurden. Ja, aber damit verliert er nicht nur gegenüber denen, die differenzieren, sondern auch gegenüber einer reinen Listenwahl an Einfluss. Das halt ich genau dann für akzeptabel, wenn es für einen normal begabten und interessierten Wähler problemlos möglich ist, sich ausreichend über die einzelnen Kandidaten zu informieren, wenn er also seinen verringerten Einfluss weitgehend selber zu verantworten hat. Je größer die Zahl an Kandidaten und je höher die Ebene ist, desto weniger wird das der Fall sein. Konkret seh ich in den Wahlkreisen kaum ein Problem, wohl aber bei den Landeslisten. Außerdem seh ich das Problem, dass die faktische Enthaltung nicht klar als solche erkennbar gemacht wird. Sie ist mindestens ebenso intransparent wie die Vorhäufelung anderswo. Ein Wähler, der eine sortierte und nummerierte "Gesamtliste" wählt, wird in der Regel davon ausgehn, dass die Sortierung mehr als nur psychologische Bedeutung hat. Hier muss ich aber anmerken, dass es nach meiner Kritik (ich hab das mit Wilko zuvor auf privater Ebene diskutiert) durchaus Bemühungen gegeben hat, den Wortlaut im Gesetz eindeutiger und ehrlicher zu machen. Wie alle anderen Verbesserungen gegenüber dem Begehrensentwurf ist das aber dem Risiko zum Opfer gefallen, dass dann gegen die Veränderungen geklagt werden könnte und damit der gemeinsame Termin mit der Europawahl, der für das Quorum nötig war, gefährdet gewesen wär. Ein guter Teil der Verantwortung, die Enthaltung als solche deutlich zu machen, liegt ohnehin bei Wahlordnung, Wahlamt und Parteien. > die Erfahrungen aus Hessen, Niedersachsen etc. zeigen, daß dadurch > die Ergebnisse, die sich aus den Wählerstimmen ergeben, regelmäßig > geplättet werden, so daß am Ende doch überwiegend die Listenreihenfolge > und nicht die Stimmenreihenfolge entscheidend ist. Das zeigt aber nur, dass es dort keinen echten Bedarf für eine Personenwahl gibt. Ich seh keinen Grund, das zu erzwingen. Es mag zwar Gründe dafür geben, die Stellung der Parteien trotzdem gezielt zu schwächen, aber dann wär es besser, einen gewissen Zufallsfaktor bei der Mandatsvergabe einzuführen, anstatt diese Aufgabe einem kleinen Teil der Wähler zu übertragen. Das untergräbt die Gleichheit der Wahl und ersetzt eigentlich nur die Herrschaft der Parteien durch eine andere Form von Oligarchie. Auf das Selbstverständnis und die Arbeitsweise von Abgeordneten sowie auf die Lebendigkeit des demokratischen Gemeinwesens hat ein derartiges Wahlrecht zweifellos Auswirkungen. Sowohl positive als auch negative. Ich bin mir nicht sicher, was überwiegt. Jedenfalls seh ich keinen Grund, deshalb das Ziel, die politischen Präferenzen der Wähler möglichst originalgetreu in Parlamentsmandate umzusetzen, zurückzustellen. Sehr viel zweckdienlicher wären dafür direktdemokratische Elemente sowie realistische Einstiegshürden für neue Parteien.
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Thomas Frings
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@ Wilko "Die Ausgestaltung des Wahlrechts hat auch Einfluß auf die Machtverteilung zwischen Parteien und Wählern, auf das Selbstverständnis und die Arbeitsweise von Abgeordneten, auf die Lebendigkeit des demokratischen Gemeinwesens, sogar auf die thematische Ausrichtung der Medien und auf vieles mehr." Wenn man das in den Vordergrund stellen will, wäre aber m.E. STV die sinnvollere Alternative gewesen,denn dort hat jeder Abgeornete persönlich ein Mandat von einem erheblichen Teil der Wähler und ist eventuell selbstbewußter gegenüber seiner Partei, wer mit nur ein paar Hundert Präferenzstimmen gewählt ist dagegen wohl eher nicht. Zudem kann STV nicht die Wahlgleichheit aushöhlen- eine Gefahr, die im neuen Hamburger Wahlrecht latent besteht- und es hat nebenbei den Vorteil, Parteien am rechten oder linken Rand zu schaden. @C07 "Das zeigt aber nur, dass es dort keinen echten Bedarf für eine Personenwahl gibt. Ich seh keinen Grund, das zu erzwingen." Vollkommen richtig.
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Ralf Arnemann
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@Wilko: Zu den "Tarnlisten": > Ich sehe das aber auch nicht als großes Problem an, da ich sicher > bin, daß es keine derartigen Manipulationsversuche geben wird. Wieso bist du da sicher? Weil Du "anständiges" Verhalten der Bewerber voraussetzt? Da wäre ich skeptischer. Die Frage ist überhaupt, ob solche zusätzlichen Listen wirklich "Tarnlisten" oder gar "Manipulationsversuche" sind und damit politisch angreifbar wären. Wenn ich das in der Sache richtig verstanden habe, reden wir hier davon, daß eine Partei mehr Sitze bekommen kann, wenn sie mehrere organisatorisch getrennte Listen einreicht, die politisch natürlich zusammen arbeiten. Ich kann mir gut vorstellen, daß eine Partei das ganz offen machen kann (z. B. es treten getrennt auf: Die Junge Union, die Seniorenunion, die CDU-Sozialausschüsse und die CDU selber) mit dem Argument, damit würde man den Wählern mehr Transparenz und Auswahl anbieten und damit dem Geist des neuen Wahlrechts entsprechen. Wenn sie damit "nebenbei" noch einen Vorteil wg. Nicht-Anrechnung abgreifen kann - wer sollte ihr das verübeln?
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c07
Hamburger Wahlrecht
Für Tarnlisten muss eine Partei in den Wahlkreisen mit formal von der Landesliste unabhängigen Listen antreten. Eine Zersplitterung in etliche Interessensgruppen kann sie sich dabei höchstens in den Hochburgen erlauben, weil weniger als etwa 10-20 Prozent keinen Sitz mehr ergeben (je nach Wahlkreisgröße und Detailergebnis). In der Tat entspricht das eigentlich dem Geist des Wahlrechts, mit Ausnahme der Tatsache, dass eben Parteien gegenüber anderen Gruppierungen eigentlich benachteiligt werden sollen.